Ein ethisches Konzept auf der Basis von Mitgefühl und Toleranz
Achtsamkeit ist in aller Munde. Kaum ein Ratgeber kommt ohne die Empfehlung aus, achtsamer zu sein. Für viele verschiedene Zielgruppen – ob Kinder oder Eltern, Manager oder Polizisten – werden unterschiedliche Programme und Trainings angeboten. Dabei wird Achtsamkeit oft betrachtet wie ein Wundermittel gegen Stress und Erschöpfung und für Entspannung und Konzentration. Eigentlich ist dieses große Interesse an Achtsamkeit erfreulich, denn es zeigt, dass Menschen suchen, sich dabei nach innen wenden und nicht nur materielle Reichtümer anstreben. Aber mit zunehmender Vermarktung des Konzepts werden auch viele falsche Versprechungen gemacht und es besteht die Gefahr, dass die eigentliche Grundidee darüber verloren geht. Worum geht es tatsächlich bei Achtsamkeit? Und wie kann man in Kontakt kommen mit ihrem Gedankengut und ihren Inspirationen, vielleicht sogar eine Haltung der Achtsamkeit kultivieren im Leben?
Achtsamkeit hat eine lange Geschichte. Vor 2. 600 Jahren wurde sie vom Buddha gelehrt, Ziel war eine spirituelle Vertiefung. In den 1970-er Jahren kehrte ein amerikanischer Molekularbiologe von längeren Meditationsseminaren in Asien in seine Heimat zurück und überlegte, wie das, was er als hilfreich erlebt hatte, auch anderen helfen könnte. So kam es, dass Jon Kabat-Zinn eine Abfolge aus Yoga-, Meditations- und Bewusstheitsübungen zusammenstellte, die er trocken MBSR – mindfulness based stress reduction – nannte. Auf Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Achtsam ist die deutsche Übersetzung des englischen Worts mindful und bedeutet eingedenk, bewusst. Lange Zeit hielt sich das Interesse daran in sehr überschaubaren Grenzen. Nur wenige Gruppen bildeten sich, keine Bücher lagen in den Auslagen der Geschäfte und es wurden kaum Vorträge gehalten. Niemand rechnete damit, dass Achtsamkeit einmal viele Menschen interessieren könnte. Einer der Gründe für diese erstaunliche Wendung mag sein, dass in der heutigen Zeit in Wirtschaft und Gesellschaft und gegenüber der Natur die Achtlosigkeit zunimmt. In einer Wirtschaftsweise, in der vor allem die Rendite zählt, Leistungsansprüche ständig steigen und stets aufs Tempo gedrückt wird, sehnen sich Menschen danach, innezuhalten und zu sich selbst zu kommen. Man möchte sich Zeit nehmen und spüren: Wie geht es mir jetzt? Was fühle ich? Was erfüllt mich? Was kann ich lassen?
Achtsamkeit ist im Grunde eine einfache Übung - aber es ist nicht leicht, längere Zeit wirklich präsent zu sein im Augenblick. In den Übungen - seien sie im Sitzen, Gehen oder Stehen - geht es genau darum: längere Zeit bewusst im Augenblick zu verweilen, die Wahrnehmungen und Empfindungen, die sich jetzt zeigen zu spüren und sich ihnen annehmend zu öffnen. Die Präsenz im Hier und Jetzt kann die Verbundenheit mit sich selbst und der Welt stärken. Wer es schon einmal probiert hat wird aber festgestellt haben, dass die Gedanken schnell in die Vergangenheit oder Zukunft, zu eigenen Plänen und Ideen abschweifen. Auch die Gewohnheit, sich selbst und andere – häufig negativ – zu bewerten und zu beurteilen, lässt sich nicht einfach abstellen. Eine Anleitung zu verschiedenen Übungen der Achtsamkeit und die Gemeinschaft in einer Gruppe sind da hilfreich: Für die Meditationen sind die Zeiten klar und der Raum ist eingerichtet. Auch schafft die Gemeinschaft eine Atmosphäre, in der man weniger abschweift und es einfacher ist, in der offenen Haltung der Achtsamkeit zu bleiben. Der Austausch in anschließenden Gesprächen kann Horizonte öffnen, die (Selbst)Akzeptanz fördern und insgesamt die Erfahrungen vertiefen, die man in der Achtsamkeitsmeditation macht.
Achtsamkeit ist auch ein ethisches Konzept. Sie beinhaltet viel mehr als die Fähigkeit zur Entspannung oder Konzentration, auf die sie heutzutage häufig reduziert wird. Es geht um eine möglichst unvoreingenommene Haltung, die Freundlichkeit und Großzügigkeit, Mitgefühl und Toleranz, Offenheit und Mut einschließt. Nicht nur der Buddhismus, auch alle anderen großen Religionen kennen Achtsamkeit – unter anderen Namen und mit etwas anderer Gewichtung. Im christlichen Glauben sind es vor allem die Liebe und der Frieden, die eine enge Beziehung zur Achtsamkeit haben. Großzügigkeit und Barmherzigkeit, Mitgefühl und Verständnis, Toleranz und Friedfertigkeit sind Herzensqualitäten, die in der Meditation geübt und im Alltag gelebt werden. Das sind die wirkliche Herausforderung und die kraftvolle Ermunterung, die mit der Achtsamkeit und der Liebe auf uns zukommen.
Forum Loccum Nr. 1 März 2016