Wie die Verhaltenstherapie helfen kann, Scham und soziale Ängste zu überwinden. Ein Fallbeispiel
Azra Turgut wagte sich erst in die fremde Welt einer psychotherapeutischen Praxis, als ihr die Kündigung drohte. Die 23-Jährige war ihren Kolleginnen im Schreibbüro eines großen Krankenhauses bis dahin immer aus dem Weg gegangen. Sie war in Bremen geboren und hatte einen deutschen Pass, fühlte sich aber nur ihrer Familie und der türkischen Gemeinschaft verbunden, in dem Viertel, wo sie lebte. Im Arbeitsalltag führte Azras distanziertes Verhalten zu schweren Problemen. Und auch sie selbst fühlte sich dort oft sehr traurig und antriebslos und musste sich zur Arbeit zwingen.
In der ersten Stunde erzählte sie der Therapeutin Bettina Grothe von ihren Schwierigkeiten: Sie hatte allergrößte Probleme, ein Gespräch zu beginnen und am Laufen zu halten. Sie traute sich nicht, Fragen zu stellen und vor mehreren Leuten laut zu sprechen. Diese Hemmungen hatte sie allerdings nur am Arbeitsplatz und in allen neuen Situationen. In familiären Zusammenhängen dagegen konnte sie Kommunikation und Kontakt genießen.
Wie in der Verhaltenstherapie üblich, füllte Azra Turgut (Name geändert) auch viele Fragebögen aus. Anschließend stellte Therapeutin Grothe die Diagnose: Azra Turgut litt unter einer Sozialen Phobie und einer Depression.
Von einem Unfall in ihrer Kindheit hatte die Patientin eine auffallende Brandnarbe an ihrer linken Wange. In der Therapiestunde setzte sie sich immer so, dass diese Wange zur Wand zeigte. Grothe sprach sie darauf an und hörte, dass ihre Patientin sich sehr für diese Narbe schämte und überzeugt war, dass andere sie damit hässlich und abstoßend fanden. »Ich verstehe, dass Ihnen das im Augenblick hilft, sich so zu setzen oder zu bewegen, dass andere ihre Narbe nicht sehen«, sagte ihre Therapeutin dazu. »Aber ich frage mich auch, was langfristig dabei herauskommt.« Und sie forderte die junge Frau auf, sich vorzustellen, welche anderen Verhaltensmöglichkeiten es für sie geben könnte.
»Was würde passieren, wenn Sie sich nicht abwenden würden?«, fragte die Therapeutin. »Wenn Sie die Narbe offen zeigen würden, könnten Sie prüfen, ob der andere tatsächlich abgestoßen ist oder nicht …« Schon bei dieser Vorstellung reagierte Azra Turgut emotional und aufgebracht: »Es war so schrecklich, wie sich die anderen Kinder in der Schule über mich lustig gemacht haben«, erinnerte sie sich. »Mich, das Türkenmädchen mit der hässlichen Narbe!«
»Das muss für Sie als Kind wirklich schlimm gewesen sein«, sagte ihre Therapeutin mitfühlend. Nach einiger Zeit aber lenkte sie die Aufmerksamkeit der Patientin wieder in die Gegenwart: »Meinen Sie, dass Ihre Kolleginnen und andere erwachsene Menschen Ihnen heute noch genauso begegnen?«
Azra Turgut bekam auch »Hausaufgaben«: Sie sollte eine Kollegin an ihrem Arbeitsplatz um Hilfe bitten. Sie sollte es wagen, in einer Besprechung um eine Erklärung zu bitten und ihrem Vorgesetzten eine Frage zu stellen. Mit Rollenspielen und Übungen bereitete sie sich mit ihrer Therapeutin darauf vor. Und allmählich wurde sie sicherer. Es war das Ziel dieser Übungen, dem Gegenüber in die Augen zu schauen und ihre Brandnarbe dabei gut sichtbar zu zeigen. »Ich habe mit der Zeit verstanden, dass ich nur so wirklich merken kann, wie der andere reagiert«, erzählt Azra heute. Dabei stellte sich heraus, dass sie viel weniger angestarrt wurde, als sie befürchtet hatte. »Meine Kolleginnen und mein Chef hatten kein Mitleid mit mir, sie finden mich okay, so wie ich bin: mit meiner Narbe im Gesicht. Und auch als Deutsche, die irgendwie noch Türkin ist.«
Aber was passiert, wenn dann tatsächlich doch jemand abschätzig auf ihre Narbe reagiert? »Ja, das fühlt sich mies an«, sagt Azra. »Ich fühle dann so viel Scham.« Sie hat aber gelernt, wie sie sich dann helfen kann. »In solchen Situationen frage ich mich: Wie wichtig ist dieser Mensch für mich, wenn er so reagiert? Und die Antwort lautet fast immer: Ich brauche ihn nicht, er ist nicht wirklich wichtig für mich.«
Mittlerweile ist Azra Turgut eine geschätzte Kollegin und geht gerne zur Arbeit. Aber sie kommt weiter regelmäßig zu Therapie. Denn sie möchte sich endlich auch glücklich verlieben – und lernen, diesem einem Mann offen und direkt in die Augen zu schauen.
Publik Forum Nr. 22 18. November 2016